Apokalyptisches KUSCHELN
Billiger Mut war gestern. Ab hier kuscheln wir uns in die Hoffnungslosigkeit – eine Woche geteilt durch eins.
Liebe Eskapistinnen, liebe Eskapisten,
ich war diese Woche im Zirkus. Zumindest kam es mir so vor. Die Nachrichten überschlugen sich, ein pandemisches Meinunghaben brach aus und allüberall eruptierten die Gefühle. Alles mindestens auf dem Niveau von Erregung, die sonst nur ein Baum auslöst, der auf den geliebten Škoda in der Einfahrt gefallen ist.
Als ein Mann, der Ende der Siebziger geboren wurde und dem eine Generation Männer zum Vorbild vorgesetzt war, die gefälligst keine Schwäche zeigt, huldige ich heute jedem Gefühl. Als dem heilsamen Ausdruck unserer persönlichen Innenwelt, der Ventil ist und Selbstkennenlernen zugleich.
Gefühle im gesellschaftlichen Diskurs machen mich allerdings ratlos.
Empörung mag eine Initialzündung für Veränderung sein. Aber Dauerempörung, Dauertrauer und erst recht Dauersprachlosigkeit sind beim Gestalten von Gesellschaft eher unnütz. Auf LinkedIn und in der Teeküche fehlten nach dem Trump-Sieg dem Vernehmen nach allen die Worte. Dabei gilt im Politischen tatsächlich der alte Pädiatrie-Kalauer: Nur wer spricht, dem kann geholfen werden!
Mit dem schmunzelnd-zynischen Begriff „Gratismut“ werden öffentliche Äußerungen bezeichnet, die für die Äußernden keinerlei Risiko bergen. Damit stehen Äußern und Geäußertes in vermeintlichem Gegensatz. Denn stets geht es in gratismutigen Botschaften um unbequemen Mut, um Anstand, ums Auf- und ums Einstehen.
Gratismut ist ganz offensichtlich passé. Jetzt regiert die Gratismutlosigkeit. Das ist Fatalismus – bar jeder Betroffenheit.
Zuerst schmiert der brave Mittelstand noch den Haferaufstrich aufs Pausenbrot von Greta und Jonathan, und dann wird schön schwarzgesehen in der Verwandten-Whatsapp-Gruppe. Im nächsten Zoom-Call wird auch den Kolleg*innen mit Weltschmerz eingeheizt: „Wie soll es einem an so einem Tag schon gehen!“ Gott steh uns bei.
Man kann sich nur wundern über die zu Markte getragene Fin de Siècle-Stimmung. Sicher, die Aufmerksamkeitsökonomie unserer Zeit und die Überdramatisierung von eigentlich allem ist dem durchaus zuträglich. Nie zuvor war es naheliegender anzunehmen, es ginge heute mal wieder um Leben und Tod (diktatorische Polizeistaaten mal außer Acht gelassen. In denen steht der Legitimierung halber immer gerade ein Armageddon bevor).
Wenn wir das Smartphone aber kurz weglegen, weil wir beide Hände brauchen, um Zahnpasta auf die Zahnbürste zu drücken, spätestens dann müsste uns doch auffallen, dass die Welt noch nie untergegangen ist. Zwei Welt-, ein Kalter Krieg, 11. September, 9. November, 7. Oktober, Y2K, H5N1, Trumps Maul, Putins Klauen ... und im Zweiten läuft weiter jeden Tag, Punkt fünf nach drei, „Bares für Rares“.
Wie arrogant muss eine Gegenwart eigentlich sein zu glauben, bei ihr wärs diesmal anders?
Zu erkennen, dass eine Krise nicht das Ende ist, sondern alle Krisen zusammen der Zustand sind, mit dem die Menschheit klarzukommen hat, heißt nicht, die Gefahren der gerade aktuellen Krise zu leugnen oder nicht mitzufühlen mit ihren Opfern. Man muss schon sehr die eigenen Privilegien übersehen, damit einem der Satz über die Lippen kommt: Was geht’s mich an?
Was geht’s mich an, dass Frauen weniger verdienen, denken meistens Männer. Niemand in der Ukraine sagt, was geht’s mich an, wenn in der Ukraine Krankenhäuser bombardiert werden. Was geht’s mich an, wenn Aykut die Wohnung nicht kriegt, Anton aber schon, kommt Antons seltener in den Sinn.
Nennen wir es stattdessen Gesinnungsutilitarismus. Welche Haltung nützt am Ende allen mehr? Fassungslosigkeit? Sprachlosigkeit? Oder Realismus?
Eine Wahrheit ist, dass der Wahlsieg von Donald Trump niemanden überraschen durfte (das Ende der Ampelkoalition hier in Deutschland erst recht nicht). Noch eine Wahrheit ist, dass das US-Wahlergebnis sein Gutes hat. Politische Analysten gingen kurz vor der Wahl fest davon aus, dass es zu Gewalt und Ausschreitungen kommen werde, wenn das Ergebnis, wie zu erwarten war, knapp ausfällt.
Stattdessen fiel das Ergebnis eindeutig aus. Die Supermacht ist nicht wochenlang stillgelegt, sondern jede und jeder konnte schon am Tag danach ihren jeweils eigenen Blick nach vorne wagen. Als Menetekel für den Untergang unserer Demokratie dient also eine Wahl, die am Ende mehr Stabilität brachte, als mancher zu hoffen wagte.
Gratismut und Gratismutlosigkeit sind typisch deutsch verbunden. Der innere Zwang nämlich sein heutiges Betragen danach auszurichten, wie man vor einem zukünftigen Moralgericht dastehen würde, ist Kern deutscher Empfindsamkeit. „Wenn man genau darüber nachdenkt, handelt es sich um eine ziemlich seltsame Idee, und es drängt sich der Gedanke auf, dass sie irgendwie von Luthers Vorstellung herrührt, wonach wir nicht durch unsere guten Taten gerettet würden, sondern ‚durch den Glauben allein‘.”1 Wie sehr wir uns auch zurückziehen mögen in biedermeierliche Tatenlosigkeit, Hauptsache wir waren damals miterschüttert.
Am Ende kann selbstverständlich jeder einzelne fühlen, was er will. Aber viele einzelne verhalten sich besser rational und zupackend als emotional und fatalistisch, wenn sie gemeinsame Probleme lösen wollen. Eine Gesellschaft die von vornherein alle Hoffnung fahren lässt, sieht die wahren Probleme nicht.
Zurück bleibt das ratlose Ungefähr. Jeder weiß, dass etwas nicht stimmt, aber keiner hat mehr genug Einblick, der Sache auf den Grund zu gehen. Das ist die große Stunde der Scheinlösungen. Die machen nichts besser, sondern würden sogar mehr Probleme verursachen. „Ausländer raus“ zu brüllen ist ja nicht nur ekelhaft, sondern schlicht dumm.
Am Tag, nachdem in den USA der Wahlkampf zu Ende gegangen war, läutete Olaf Scholz den Wahlkampf in Deutschland offiziell ein, indem er Christian Lindner aus seiner Bundesregierung entließ. Eine Minute später schrieb Alice Weidel vermutlich auf einen Post-it-Zettel: „Dran denken! Neue Scheinlösungen unters Volk bringen.“ Wie die im Wahlkampf ankommen werden, das sind allerdings wirklich trübe Aussichten.
Bis nächsten Sonntag!
James Hawes: Die kürzeste Geschichte Deutschlands, S. 166.




Wo fange ich denn hier bloß an, Zitate zu restacken? Ja, ja und ja!
super Beitrag!