Tuße mich ma die SOLJANKA?
Humor, Spießertum, Herkunft – alles heikle Themen in Deutschland. "Es ist kompliziert" ist hier kein Beziehungsstatus, sondern Staatsangehörigkeit – eine Woche geteilt durch acht
Liebe Eskapistinnen, liebe Eskapisten,
in meinem Feed tauchte vor ein paar Tagen eines dieser Videos zum Mutmachen auf. Sie kennen die. Die Erklärungen sind platt, die Schlüsse schlicht. Aber wenn's hilft.
Ich schaue also dieses Video, sehe wie eine Hand ein Glas unter einen Wasserhahn hält. Das Glas ist randvoll mit einer Cola-braunen Flüssigkeit. Dann fängt das Wasser aus dem Hahn an zu laufen und das Glas läuft über. Das Braun verwässert und verschwindet, bis nur noch glasklares Wasser da ist. „Wie Heilung passiert“, ist das Video überschrieben.
Während ich mir eine Cola Zero aus dem Kühlschrank hole, denke ich ein paar schlichte Gedanken dazu. Stimmt, da sind im Leben nirgendwo Schalter, die umgelegt werden können. Ständig ist Übergang und nichts passiert von jetzt auf gleich. Hurra, mein Glas ist gerade nicht nur nicht halbleer, sondern eher glasklar. Was an der guten Seeluft und einer Nachbarin liegt.
Aber ich fürchte, das nächste Cola-braune Tröpfchen tropft schon wieder.
Bis nächsten Sonntag!
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#1 – Als ich Ostern meine Mutter besuche, läuft mir ihre Nachbarin über den Weg. Ich frage sie die Frage, die nicht überrascht und auf die man keine überraschende Antworten erwartet. „Du, mir geht’s echt gut, Andreas.“ Dann holt sie aus, warum’s ihr so gut gehe. Weil ihr Mann nämlich ordentlich für sie vorgesorgt habe und jetzt einmal im Jahr drei Wochen Urlaub drin seien. Die Verpflichtungen von früher seien ja längst weg. Autofahren könne sie auch noch und gesund sei sie sowieso. „Meckern wäre da echt nicht angebracht.“ Mit der Antwort hatte ich wirklich nicht gerechnet.
#2 – Nüchtern reimt sich sehr auf schüchtern. Aber Vernissage nur auf Versace, wenn man eines der beiden sehr falsch ausspricht. Bin ich der einzige, der das ungerecht findet?
#3 – Vier Nächte Rügen und ich frage mich wieder, was mache ich hier eigentlich. Ich frage mich das jedes Mal, was unterm Strich viele Male sind. Ich hab nachgerechnet, siebenmal war ich schon hier. Dann denke ich an den Wichtigtuer-Gosch, an den Adenauer-Store und an den Kitschkrämer, bei dem es zwar keine Tassen mit „Greta“ drauf gibt, aber selbstverständlich mit „Gisela“. Was mache ich hier eigentlich? Das letzte Mal habe ich mich das jetzt gefragt. Die Großstadt-Arroganz werde ich mir schon austreiben. Wie mir die eigene Ironie auf die Nerven geht, mit der ich hierhin fahre. Dann sehe ich das Plakat, das den Auftritt von Thomas Anders auf der Waldbühne in Bergen ankündigt. Es steht gleich neben der Tankstelle, deren Waschanlage einen „Lady’s Day“ hat mit Rabatten nur für Frauen. Die Ampel schaltet auf Grün und ich fahre weiter. Immerhin, ich hab’s versucht.
#4 – Mein Loblied auf Ostern fand auch bei Leser J. Anklang. Der konnte es nur viel besser in Worte fassen. Dass Ostern seine eigene Regeln habe und obendrauf auch noch total sympathisch sei, das lasse nur einen Schluss zu: „Ostern ist der DFB-Pokal unter den Festen.“
#5 – Der Rügen-Urlaub unter den Lach-Veranstaltungen – so möchte man das Prime Video-Format „LOL“ nennen, in dem zehn Comedians sechs Stunden lang versuchen, nicht zu lachen. Angesichts des angespannten Verhältnisses, das die Deutschen zu ihrem Humor pflegen, lädt so ein Nichtlachengebot zu diebischer Feuilletonisten-Häme ein. Ich aber bin ein einfacher Mensch und bekenne: Ich habe wieder Tränen gelacht. Vier Folgen der fünften Staffel sind schon draußen, zwei kommen noch. Zwitschi, zwotschi!
#6 – Der Osten Deutschlands wird für mich immer Fremdbereich bleiben. Der ganze Landstrich ist durchzogen von einer hauchdünnen Linie, die Camp David von Thor Steinar trennt ... denke ich und weiß natürlich, welch unoriginellem Generalverdacht ich da aufsitze. Die Grenze zwischen Vorurteil und Empirie ist allerdings auch manchmal dünn. Soljanka ganz oben auf der Karte ist wirklich. Purple Disco Machine im Radio direkt nach den Puhdys ist wirklich. Vielleicht erschnüffeln wir Wessis regionale Eigenheiten im Osten nur viel versessener als anderswo. Ich wuchs auf in Nordrhein-Westfalen. Das Suhlen in Folklore erreicht in diesem Teil des Landes ebenfalls Höchstwerte auf der Soljanka-Skala. Hören sie mal eine halbe Stunde WDR 2 und die „Dats“ und „Wats“ und „Wolls“ werden sie bis in den Schlaf verfolgen. Dass dem Bocholter deshalb Westalgie vorgeworfen würde, wäre mir allerdings neu.
#7 – Der Gipfel der Entspannung ist ja nicht gerade, wenn man in der Sauna sitzt mit drei Franken und die in die heiße Luft noch mehr heiße Luft über ihre nicht so geilen Investment-Moves abgegeben: „Des woa immahin ka Dodalvalusst wia damoals beia Delegomm.“
#8 – Ich bin kein Reaktionär in Erziehungsfragen. Aber was ist bitte aus „Darf ich ein bisschen rumlaufen?“ geworden? Wenn ich mit meinen Eltern in den Achtzigern essen war, musste ich nur meinen Essenswunsch abgeben, ab da war ich von der Leine gelassen. Je nach Lokalität ging’s auf die Kegelbahn, ich bekam Geld für den Spielautomaten oder eine spontan formierte Neufreundegruppe spielte Fußball zwischen den Garagen. Die Eltern bekamen höchstens Stippvisiten am Tisch, um zwei Schlucke von der Fanta einzusaugen. Ich will nicht sagen, dass die Pädagogik besser war (wenn ich Spielautomat schreibe, meine ich keinen Flipper, ich meine einen Geldspielautomaten!). Ich verstehe auch, dass die Verlockung des Smartphones nicht mehr aus dem Hirn meiner elfjährigen Tochter zu kriegen ist (und vor allem ist es nicht ihre Schuld, dass die Verlockung da drin ist!). Vielleicht erinnere ich mich nur gerne daran, wie gut bisschen Rumlaufen war.