Tiktok killed the BAEDEKER
Prenzlauer Berg ist überall. Manchmal sogar in London – eine Woche geteilt durch fünf
Liebe Eskapistinnen, liebe Eskapisten,
vor nicht allzu langer Zeit schrieb ich irgendwo hier, ich wolle bloß nicht als prätentiöser Vielreiser erscheinen. Das ist jetzt ein bisschen doof. Ich war schon wieder unterwegs.
Aber versprochen, keines meiner Erlebnisse in dieser Woche ist würdig, nacherlebt zu werden. Niemand erfährt, von welcher Marke meine Koffer sind. Oder dass ich am Berliner Flughafen immer durch den Sicherheitscheck in Terminal zwei gehe, sogar wenn mein Flug an Terminal eins startet. Weil’s so viel schneller geht.
Bis nächsten Sonntag!
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#1 – Großbritannien war für mich einmal Sehnsuchtsort. Ein ungefährer, ich wollte gar nicht länger da sein, darum ging’s nicht. Aber die Popkultur, die Klamotten, Punk und Ska waren die Kathedralen, in die ich als Teenager zum Beten ging. Deshalb war der Trip nach London diese Woche auch eine kleine Pilgerreise.
Ich packte also meine wenig altersgerechte Bomberjacke ein, die mit den aufgenähten Bar Towels, und – süß von mir – nahm an, dass ich sowieso verschmelzen würde mit der Stadt. Zweimal habe ich in London dann diesen Satz gehört: „You’re the most German looking person in the room.“ So viel dazu.
#2 – Ich bin selbstverständlich nicht beleidigt, weil die Engländer meine innere Pickelhaube fünf Meilen gegen den Wind riechen. Das ist nur die natürliche Reaktion eines Volkes, das sich mit fortschreitender Prenzlauer-Bergisierung konfrontiert sieht.
#3 – London hat mich nicht nur einmal über meine Identität nachdenken gemacht. „Are you a Mister?“, war ich vorher noch nie gefragt worden. Aber die kleine Frau hinterm Tresen in der kalt-rauchigen Bingo-Halle in Camden Town wollte es wissen.
Die Halle und die Frau waren unverdächtig, in jüngster Zeit mit cancel-wütigem Publikum in Berührung gekommen zu sein und deshalb jetzt politisch korrekt überzureagieren. Die Frau und ich hatten nur zu lange versucht, meine deutschen Eckdaten in ihren sehr englischen Computer zu hacken. Das heißt, sie hat gehackt, ich habe auf diesen überlangen Fingernagel an ihrem linken Ringfinger gestarrt.
Wer England erleben will, wo England noch England ist, sollte an einem gewöhnlichen Montagabend Bingo spielen gehen. Ich würde allerdings empfehlen, sich schon vorher für ein Geschlecht zu entscheiden. Das beschleunigt die Anmeldung ungemein.
#4 – Das Internet besteht zu je einem Drittel aus Pornos, Katzen-Reels und nicht so Insider-Tipps für den nächsten Städtetrip. Tiktok killed the Baedeker also. Was einerseits überhaupt nicht schlimm ist, aber andererseits einen Hybris-Schaulauf verursacht, für den ein Internet eigentlich zu wenig Platz hat. Da wird jedes Ohrenstäbchenbenutzen zum „Auf jeden Fall fern von zu Hause nachmachen!“
Ich bin überzeugt, nicht eine zunehmende Selbstüberhöhung ist der Grund für die Empfehlungsflut. Es ist der unstillbare Hunger auf der anderen Seite der Smartphone-Scheibe. Man kann nicht mehr einfach irgendwo gewesen sein, sondern muss anschließend Insta-würdiges zu berichten wissen. Und dafür braucht’s eben jede Menge Reiseprogramm-Futter.
Eine liebe Freundin warf mir nach meiner Rückkehr halb scherzhaft vor: „Ich weiß gar nicht, was Du gemacht hast in London. Du hast nichts geteilt!“ Ich kann eben nur schwer mithalten, weil nicht zu Hause sein mir schon Abwechslung genug ist. Um besser verstehen zu können, was ich meine, kommt hier ein Insidertipp genau nach meinem Geschmack: Schauen Sie das neue Comedy-Special von Neal Brennan auf Netflix. In London.
#5 – Vielleicht hat meine Social Media-Stoffeligkeit ja auch damit zu tun. Hier lesen inzwischen mehr als 100 Menschen mit. Das macht mich mehr froh als 100 Weine aus deutschen Landen. Aber vor allem ist ja jedes einzelne Mitlesen so viel mehr wert als 100 Daumen hoch irgendwo anders. Vielen, vielen Dank!
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Wenn Sie das nächste Mal in London sind, seien Sie einfach mal froh, dass Sie da sind. Schreiben Sie vorher keine Liste. Haken Sie nichts ab. Nicht das Town Hall Hotel in Bethnal Green. Erst recht nicht die kleine Pizzeria gegenüber. Machen Sie einen großen Bogen um diesen Buchladen, und buchen Sie bloß keine Jack the Ripper-Tour bei Philip mit einem L. Aber am allerwichtigsten, essen Sie niemals, wirklich niemals so ein Sandwich.
Ich liebe kluge und witzige Texte wie diesen hier. Danke dafür!
Wieder schön beobachtet und dann auch noch in lustige Sätze verwandelt, die klug sind. What a coincidence, dass Dein Text heute zu meinem passt. Das Internet ist zu klein, hahaha!