Take her MONEY!
Ein neues Guilty Pleasure, das nur auf den ersten Blick absonderlich wirkt. Kino und Drogen kosten nämlich viel mehr
Es war mir immer ein bisschen peinlich. Mein Boss ist gerade mal elf und schon auf Rathaus-Level zehn. Ich bin auf neun und werde niemals erreichen, was er vor mir geschafft hat. Aber wahrscheinlich macht ihn gerade das zum verdienten Anführer meines Clans in „Clash of Clans“.
Wie gesagt, mir war das ein bisschen peinlich. Bis ich den neuesten Gastbeitrag aus der Eskapade-Serie „Guilty Pleasure“ las und feststellte, dieses Level an Obsession werde ich ebenfalls niemals erreichen. Journalistin und Drehbuchautorin Gesa Mayr, mit der ich jahrelang Schreibtisch an Schreibtisch zusammengearbeitet habe, legt unten – für mich völlig überraschend! – ihre Affinität für trashige Handy-Spiele offen.
Die Eskapade ist nicht nur sonntägliche Kolumne, sondern auch ein Community-Projekt. Deswegen will ich mit dieser Serie von Gastbeiträgen möglichst alle Menschen, die ich gerne lese, mit den besten Leser*innen, die es im Internet gibt, in Berührung bringen. Wenn Sie dieses Projekt unterstützen wollen, freue ich mich über ein Abo, eine Weiterleitung oder Feedback: andreas@die-eskapa.de
Jetzt übernimmt Gesa!
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Wenn ich ehrlich bin, gab es schon immer eine gewisse Affinität.
Vielleicht wurde sie geschürt, als mein Großvater und ich uns in den Neunzigern stundenlang durch die pixeligen Welten von Jill of the Jungle, Lara Croft und King’s Quest VII mühten. Lösungsschlüssel auf den Knien, Augen auf dem Bildschirm des Intel Pentium MMX 233MHz, 128MB RAM, Windows 95-Rechners geheftet.
Vielleicht war es das strenge Regelwerk meiner Mutter, welchem die Nutzung von PC und Modem unterlag. Eine Stunde am Nachmittag, nicht mehr, gerne weniger, Hausaufgaben fertig, Meerschweinchenkäfig sauber und ach, du könntest auch mal wieder ein Buch lesen. Computerzeit als Belohnung, ich wünschte, ich hätte eine bessere villain origin story anzubieten, but here we are.
Ich spiele also leidenschaftlich gerne Computer. In der Verlängerung Mobile Games. Und zwar nicht so New Girl-cool und liebenswert („Ah, witzig! Du stehst nachts vor MediaMarkt für Red Dead Redemption und Fallout 4 an?“), sondern am allerliebsten diese Schrott-Spiele, von denen einem Werbung in den Algo gespielt wird und bei denen man immer denkt – wie machen die Geld?
Nun. Die Antwort lautet: mit mir.
Ich definiere eine Sonderabteilung für besonders niedere Tätigkeiten. Ich nenne sie die Aufbau-Ernte-Großmachtfantasie-Abteilung. In diesen Spielen fängt man klein an und arbeitet sich hoch beziehungsweise groß. Wahlweise baut man eine Zivilisation auf (Pharao, CIV IV), eine Farm, einen Vergnügungspark (HayDay, Smurfs’ Village, Theme Park) oder eine Reputation (ein sehr düsteres Kapitel in meiner Gaming-Historie: Kim Kardashian: Hollywood).
Hin und wieder unternehme ich – wie ich mir einbilde – intellektuelle Ausflüge in Spiele und Szenarien, die außer des kapitalistischen Emporkommens noch eine geopolitische Strategie-Komponente beinhalten.
Total Battle war so ein Ausflug. Hier war ich überdurchschnittlich lange (vier Tage!) beschäftigt. Das Spiel kombiniert mit seinen Jump-n-Run-Exkursen und Eroberungsaufgaben (jaja, QUESTS!) das Beste aus allen Welten. Aber als eine verfeindete Gilde wegen eines Rohstoff-Disputs die Klarnamen einiger Spieler*innen veröffentlichte, wurde es mir zu unheimlich. (Deswegen spiele ich übrigens am liebsten gegen den Computer.)
Ich erzähle das hier so nonchalant, aber wenn ich ehrlich bin, habe ich den unproblematischen Bereich längst verlassen.
Immer muss entweder Zeit oder Geld investiert werden und spätestens, wenn eine Ernte Schlumpfbeeren acht Stunden Wachstumszeit „kostet“, kaufe ich ein Paket Wunderbohnen für einsneunundneunzig. Wie mein Einkaufsverlauf zeigt, sind es manchmal auch zehnneunundneunzig.
Diese Beträge gehen mir mittlerweile ganz leicht aus der Hand. Die Alternative wäre, dass ich mir einen Wecker stelle, um morgens um 3 Uhr 42 manuell die Beete abzugrasen, bevor sie verwelken. Seit ich meine Schwester Heiligabend 2016 aus dem Schlaf gerissen habe, damit Kim Kardashian rechtzeitig zu ihrem Fotoshooting nach Miami kommt, weiß ich, dass das keine sozial-akzeptierte Option ist.
Die bescheuerte Wahrheit ist leider, dass ich emotional in die Ernten, Instandhaltung und Vergrößerung dieser Mikrokosmen investiert habe. Bei solchen Bildern bekomme ich nach wie vor einen unmittelbaren Cortisoleinschuss:
Erst wenn ich nicht mehr oder nur sehr langsam weiter komme, beginnt mich das Spiel zu langweilen und ich lasse mein Garten-Diorama von einem Moment auf den anderen fallen – im Durchschnitt nach drei Tagen. Dann ist Schluss, oft über Monate, bis ein verregnetes Herbstwochenende oder eine Ehekrise mich in die Arme einer neuen Obsession treiben.
Bis das sudden repulsion syndrome einsetzt. So lange ich eine Chance habe, Kalif anstelle des Kalifen zu werden, bleibe ich dran und sitze gerne mal auf einen Dienstagabend bis um halb fünf Uhr morgens vor dem Bildschirm und führe mein Volk von der Steinzeit in die Renaissance.
Neulich habe ich dieses Guilty Pleasure einem Bekannten gebeichtet und es direkt bereut, weil die Person umgehend versuchte, aus dieser vergleichbar harmlosen Marotte negative Rückschlüsse auf meinen Charakter zu ziehen. Ehrgeiz gepaart mit Eskapismus. Unangenehm. Warum brauchst du diese Validierung, Gesa?
Ich fühlte mich erwischt, vor meinem inneren Auge spielte sich eine „The Sound of Music“-ähnliche Szene ab, in der ich völlig unbescholten vom Elend der Welt über meine brav bestellten digitalen Äcker tanze.
Dann habe ich mich geärgert. Warum lasse ich mir meinen kontrollierten Kontrollverlust überhaupt madig machen? Ich finde dieses obsessive Daddeln angenehm aufregend.
Sich drei Tage so richtig schön in eine Sache reinsteigern. Ich verbringe als steuerzahlende Erwachsene die ganze Nacht mit Quatsch. Verklag mich doch! Kostet so viel wie ein Kinobesuch ohne Popcorn, oder, wenn wir nach der harten Währung in Berlin gehen: nicht mal ansatzweise so viel wie ein Wochenende im K-Hole.
So, genug auf die Couch gelegt. Am Ende bleibt, dass es mir Freude macht.
Jetzt will ich auch anfangen zu zocken!