Ich habe wieder ein bisschen Mut. Weil ich Mut abbekommen habe. Von den mutigen Menschen, die im Berlinale Palast Flagge gezeigt haben. Wenn da applaudiert wird, als wär’s das einfachste der Welt, von Menschen, die selbst nichts haben außer den Roten Teppich, ihre Bekanntheit und eine Handvoll Kultursubventionen, wie kann ich da noch stillsitzen?
Also habe ich das mutigste getan, was ich tun konnte. Sie ahnen es! Ich habe ein Krimi-Fragment geschrieben – aber alle Charakter tragen die Namen von Küchenutensilien. Warum? Die Frage erübrigt sich so offensichtlich, dass ich sie dennoch beantworte.
Weil der Krimi das Hochamt der deutschen Gesellschaftskritik ist. Weil die Zukunft unserer globalen Nachbarschaft in der Küche entschieden wird (Stichwort: Kampf um die besten Töpfe). Aber vor allem klingt “Fragment” einfach super schlaubischlumpf.
Fissler und die Meckerbox
Angelika Fissler warf die Gabel geräuschvoll auf den Teller. “Was ist das wieder für ein Dreck?! Jeden Tag derselbe Fraß!” Was eigentlich ein Feta-Rosenkohl-Auflauf hätte sein sollen, sah in Wirklichkeit aus wie klumpige Spachtelmasse. Und schmeckte auch so. Die Stimmung der Kriminaloberkommissarin erreichte einen neuen Tiefpunkt. “Uu-we!” Stieltopfs Kopf erschien in der Tür zum Nachbarbüro. “Ich find's gar nicht so schlecht.” Kein Wunder, dachte Fissler. Kollege Stieltopf hätte auch echte Spachtelmasse gegessen, so unempfindlich war sein Magen. Seine ganze Person war unempfindlich. Aber das musste kein Nachteil sein, wenn man in der Mordkommission arbeitete.
Die Tür sprang auf, herein platzte Polizeiobermeister Benny Hobel. “Die Knödeltuch ... ist ... Die Knödeltuch!”, japste der junge Uniformierte. “Herrgott, was ist denn los, Hobel? Wir essen gerade.” Hobel, der seit Monaten um die Aufmerksamkeit der beiden Ermittler buhlte, musste alle sieben Stockwerke von der Wache bis hoch in die Mordkommission gesprintet sein. “Jennifer Knödeltuch ist tot!” Fissler blickte den hechelnden Hobel ahnungslos an. Der fuchtelte seinerseits mit dem Smartphone. “JennyFabric99! Nie gehört?!” Kollege Stieltopf kam Fissler zur Hilfe: “Das ist so eine Influencerin.” Hobel rang immer noch nach Luft, sein Brustkorb pumpte, als er sich aufrichtete. “Ganz genau. Und jetzt ist sie tot!”
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Fissler blickte durch das Beifahrerfenster auf die vorbeirasende Stadt. “Ich brauche heute noch einen Verdächtigen! Habe ich mich klar ausgedrückt, Frau Kriminaloberkommissarin?” Staatsanwalt Heinrich Fackelmann war ein Karrierist der übelsten Sorte. Das wusste Fissler spätestens seit der Sache mit Europol. Marie Le Creuset, belgische Vorzeigeermittlerin aus Antwerpen, war bei einer grenzüberschreitenden Ermittlung mit Fissler aneinandergeraten. Um seine europäische Reputation nicht zu gefährden, hatte Fackelmann keine Minute gezögert und Fissler über die Klinge springen lassen.
“Der Tellerbesen sitzt mir sowas von im Nacken! Ich brauch Ergebnisse, schnelle Ergebnisse!”, hallte Fackelmanns Stimme über die Freisprecheinrichtung. Sie vereinte sich mit Motorengeheul und Sirene zu einer drückenden Lärmlawine. Hendrik Tellerbessen war rasender Reporter der alten Schule. Die fortschreitende Bedeutunglosigkeit seines Berufsstands und seiner selbst bekämpfte er mit immer rabiateren Methoden und mit immer knalligeren Geschichten. “Bekommen sie, bekommen sie!”, brüllte Fissler, nicht ohne mit den Augen zu rollen. Kollege Stieltopf bekam von all dem nichts mit. Er steuerte den Dienst-BMW in halsbrecherischem Tempo Richtung Tatort.
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Es blitzte im Sekundentakt. Das Schlafzimmer war von solch rosa Geschmacklosigkeit, dass es Fissler schmerzte. Gleichzeitig wirkte die Einrichtung so durchdacht, jedes Teil mit Vorsatz drapiert, dass hier jederzeit ein echtes Fotoshooting hätte stattfinden können. Dafür hätte man allerdings die Leiche auf dem Bett und das halbe Dutzend Kriminaltechniker aus dem Raum schaffen müssen. “Was haben Sie für mich, Doc?” – “Ach, auch schon da?” Pathologin Friederike Fleisch-Plattierer flitschte den Gummihandschuh von ihrer rechten Hand. “Ich würde es begrüßen, wenn wir zur Sachen kommen könnten”, maulte Fissler. Sie hatte es nicht wirklich eilig. Aber auf die selbstgerechten Sprüche der Rechtsmedizinerin konnte sie trotzdem verzichten.
Fleisch-Plattierer deutete auf den leblosen Körper auf dem Bett: “Jennifer Knödeltuch, 22 Jahre. Offenbar sowas wie eine Internet-Berühmtheit. Die Flecken auf der Haut, der Ausschlag am Hals, sehen sie den?” Fissler starrte Fleisch-Plattierer herausfordernd, mit hochgezogenen Augenbrauen an. Stieltopf, der angefangen hatte Notizen zu kritzeln, blickte von seinem Notizbuch auf. “Deutet alles auf eine Vergiftung hin”, holte die Pathologin die in der Luft hängende Frage wieder ein. “Genaueres kann ist erst sagen nach –” – “Nach der Obduktion. Wer hätte das gedacht”, fiel ihr Fissler ins Wort.
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Fissler und Stieltopf kämpften sich durch die Schaulustigen, die sich inzwischen vor der Knödeltuch-Villa drängten. Der Tod der Social Media-Ikone musste sich nicht erst rumsprechen. Er war ironischerweise live gestreamt worden. “Das war ja mal ein Auftritt”, sagte Stieltopf, während er und Fissler sich weiter durch schluchzende Teenager quetschten. Kurz nach der Ankunft der beiden Ermittler hatte Hendrik Zestenreißer einen theaterreifen Auftritt am Tatort hingelegt.
Zestenreißer war nicht nur Knödeltuchs Stiefvater gewesen, sondern auch ihr Manager. “Diese verlogene Show! Der sieht doch nur sein Geschäft den Bach runtergehen, jetzt wo seine geliebte Jenny tot ist”, warf Fissler Stieltopf über die Schulter zu. “Glauben Sie, der hat was zu tun mit der Sache, Chef?” Fissler traute dem schmierigen Manager und seinen falschen Tränen zwar nicht. Aber ein Mord, war er dazu fähig? Und was für ein Motiv hätte er gehabt?
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In der Kantine des Polizeipräsidiums herrschte emsige Ruhe. Der mittägliche Ansturm war verzogen, alle Planstellen waren wieder besetzt. Im großen Saal mit der enormen Fensterfront räumte, wischte und klimperte ein halbes Dutzend Kantinenkräfte. “Na, da schauen wir mal, was selbst den Kollegen zu eklig war.” Fissler und Stieltopf schritten die geplünderten Auslagen ab. Nach dem abrupten Ende ihres Mittagessens hatte Fissler beschlossen, die Verbrecherjagd zu pausieren und stattdessen auf die Jagd nach Resten vom Büffet zu gehen.
Seit Kantinenchef Rainer Wetzstahl einen Zusammenbruch hatte, blieb regelmäßig eine Menge übrig. In der Reha hatte er den Sinn oder Gott oder sonst irgendetwas gefunden. Jetzt stand die Großküche unter einem eisern-veganen Kommando. Die Currywurst- und Schnitzel-Junkies aus dem Innendienst taten sich noch immer schwer mit dem Speiseplan. “Diese verfressenen Schweine!”, brüllte es irgendwo. Fissler und Stieltopf hielten inne und schauten über den Tresen hinweg Richtung Küche.
Wetzstahl kam aus der Küche gestürmt, in seiner Hand ein Schuhkarton. Schnaubend warf er den Karton mitsamt geschlitztem Deckel in eine Tonne für Essensreste. “Das war schon die fünfte Meckerbox”, stellte Stieltopf fest.
Fortsetzung offen ...