Im Wald der einsamen NACKTEN
Was würden wir noch tun, wenn keiner da wäre, der über uns die Augen rollt? Nicht viel.
Ich weiß nicht, ob sie wissen, dass ich viel tätowiert bin. Schon meine Annahme mag Sie verwundern, denn schließlich kennen wir uns ja kaum. Andererseits gehe ich sehr offen mit dieser meiner neupigmentierten Haut um. Und so wär's eben nicht völlig ausgeschlossen, wie's der Zufall so will, man hat schließlich schon Pferde vor der Apotheke, könnte doch sein!
Der Grund für mein offenes Auftreten mit dem Tintenschmuck ist einfach. So nehme ich jedem Verwundern über mein nicht ganz altersgemäßes Betragen von vornherein den Wind aus den Segeln. Jedem schiefen Blick, der meine bunten Unterarme trifft, entgegne ich ein breitbrustiges: "Das Geld hätte ich mal besser in eine Therapie gesteckt, wie?"
Durchs saloppe Verkalauern soll der Eindruck entstehen, mir wäre egal, was andere über mich denken. Das rede ich mir nicht nur ein, vor allem rede ich's mir schön. Denn natürlich interessiert es mich, was andere über mich und meine Tätowierungen denken. Wenn's die richtigen Leute falsch finden, macht meine 45 Jahre alte Männlichkeit sogar die Beckerfaust.
Toni, einer der zwei Menschen, die für die tätowierten Anteile meiner Midlife Crisis zuständig sind, hat's mal so gesagt: "Wenn Du nackt, bloß und alleine in einem Wald leben würdest, würdest Du Dich dann auch tätowieren?" Wohl kaum. Erstens tut's sauweh, und ich hätte vermutlich noch genug Schmerzen von der letzten Säbelzahntigerjagd. Und zweitens ist es sauteuer. Aber fassen Sie mal einem nackten, bloßen Mann im Wald in die Tasche!
Toni hat natürlich recht. Alles was auch ich tue, geschieht im sozial verstrickten Raum. Seitdem Toni dieses Gedankenexperiment in meine Gedanken ausgebracht hat, muss ich mir ständig Gedanken über die Frage machen: Was würde ich eigentlich noch machen, wenn ich aller Verbindungen zu anderen Menschen verlustig gegangen wäre?
In meinem Fall bliebe wohl nicht mehr viel übrig an Beschäftigungen, wenn mir doch keiner zuguckte. Ich würde wahrscheinlich sehr viel Nudeln essen und mein zunehmend nudliges Aussehen mit Stolz und Würde vor mir hertragen. Obwohl ich mich frage, warum der Stolz und für wen die Würde? Säbelzahntiger sind nicht gerade berüchtigt für ihren ausgeprägten Hang zum Fatshaming.
Ich hoffe, dass im Wald der einsamen Nackten noch irgendwo ein oller DVD-Player rumstünde. Dann würde ich nach jedem Nudelfrühstück erst mal "King of Queens" glotzen. Die Serie mit Kevin James in der Hauptrolle hat mich damals ungefähr sieben meiner 14 Semester Studium gekostet. Gealtert ist sie leider nur halbgut. Aber wer wollte mich verurteilen im Nacktenwald? Ich selbst würde mich bestimmt nicht canceln. Wie auch? Auf Twitter folgte mir nur ein Mensch und der wäre schließlich ich.
Apropos Twitter. Noch spannender als die Frage, wie man selbst im schier asozialen Raum agierte, finde ich ja, was die berufsmäßigen Exzentriker zu tun sich überhaupt noch aufrafften, wenn keiner da wäre ihnen zuzugucken. Der Narzisst ist das Zentrum seines Universums. Aber welchen Zweck hätte er noch, wenn da keine anderen Sterne wären, die um ihn kreisten?
Ich glaube kaum, dass Elon Musk noch jeden Tag um fünf Uhr aufstehen und sich Gelée Royale in den Bizeps spritzen würde, wenn er das einzige Säugetier mit Testosteron-Überschuss wäre. Würde Till Lindemann mit Flammenwerfer durchs Gehölz zündeln und dabei "Deutschland, Deutschland" gurgeln, wenn kein Weibchen weit und breit ihn anzuhimmeln?
Allein Wladimir Putin, da bin ich mir sicher, der würde auch ohne Jubelrussen durch den Wald wandeln, wie man's von ihm gewohnt ist. Oberkörperfrei erklärt er Kiefer um Kiefer zu Feinden seines Großkiefernreiches. Immer an seiner Seite: sein getreuer Tanzbär Aljoscha.
So hätte Putin bis ans Ende aller Tage seinen Alleinewald unter seine Alleineherrschaft bringen können. Wäre er nicht eines Tages den einen Schritt zu weit gegangen und am Rand des Waldes angekommen. Da wartete dann Olaf Scholz auf ihn, bekleidet nur mit einem “Zeitenwende”-Tattoo auf dem Bizeps.