Diese 29 BÜCHER habe ich dieses Jahr gelesen
... und drei davon haben das Jahr besser gemacht.
Vor Kurzem habe ich eine neue Bücher-App kennengelernt. Ihr Gründer hatte sich ganz ungezwungen in meiner Timeline niedergelassen. Wie er da barfüßig auf dem Fenstersims saß, in der einen Hand ein Buch, in der anderen eine Boule mit unidentifiziertem, aber garantiert antioxidantischem Inhalt, erregte in mir nicht nur Aufmerksamkeit.
In Zeiten von allgegenwärtigen Incels, Prepper-Freaks und anderen Macho-Heulsusen sticht ein ruhender Model-Typ mit Dreitagebart und Schlabberlook wohltuend heraus aus den männlichen Rollenvorbildern. Zumal wenn er sein Geld nicht verdient mit einem Schneeball-System in Dubai, sondern mit Bücherwonne im Schicki-Kiez.
Ich habe die App nach einer halben Stunde wieder gelöscht.
Für meine direkte Ablehnung konnte die App nichts – und mein neuer bro crush noch viel weniger. Wovon beide nichts wissen konnten, war mein Entschluss, mehr zu lesen, und damit das klappen würde, jede unnütze Ablenkung auf ein Minimum zu reduzieren. Eine Bücher-App, die mich Dopamin-gestützt dazu nötigt, seitengenau meinen Lesefortschritt zu rapportieren, erschien mir sehr schnell sehr viel unnützer als ... zu lesen.
Über die wohltuende Wirkung des Lesens für die Welt, das Land und den eigenen Kopf wurde schon alles geschrieben. Den bildungsbürgerlichen Dünkel, der dabei schnell aufkommt, erspare ich uns. Ich lese nicht, damit eine App-Gefolgschaft sieht, dass ich lesen kann, sondern weil beim Lesen alles andere Pause hat.
Damit ich so viel lese, wie’s geht, habe ich irgendwo in der Mitte des Jahres realisiert, ich muss Lesen mehr verfügbar machen als andere Ablenkungsverlockungen (so wie man im Fitnessstudio am anderen Ende der Stadt garantiert Karteileiche wird, im Fitti nebenan aber nicht ganz so schnell). Jetzt habe ich ständig drei Bücher im Anbruch: eins liegt neben der Couch, eins – real talk! – liegt neben dem Klo, aber fast noch wichtiger ist das Buch auf dem E-Reader, der ständig dabei zu sein hat. In der S-Bahn, vor der Wursttheke oder in Wartebereich 2 vom Arbeitsamt.
Dieser Text und die Liste unten widersprechen allem, was ich gerade versuche, übers Lesen auszudrücken: Weniger Gedöns machen ums Lesen. Lesen! Aber wenn ich uns allen das Bild vom schönen App-Gründer in den Kopf pflanzen konnte, der mit runtergelassener Schlabberhose auf dem Klo sitzt, Chai-Tasse in der einen und „Darm mit Charme“ in der anderen Hand, dann konnte ich die Welt und das Land immerhin ein kleines Stück besser machen.
Die Liste ist kein Ranking, es gibt auch keine Sterne-Bewertung und ich höre schon die Schimpftiraden, die deshalb meine Chefredakteurin ehrenhalber gerade in eine Sprachi spricht. Ich finde aber, es wird schon genug verglichen, be- und abgewertet. Außerdem bin ich dazu übergegangen, Bücher wegzulegen, wenn sie mich auf Seite 50 noch nicht gepackt haben. Alle Ein- und Zwei-Sterne-Bücher sind mithin bereits der natürlichen Auslese (!) zum Opfer gefallen. Die Liste sagt, welche Themen mich beschäftigt haben in diesem Jahr und welche Fragen ich mir gestellt habe. Aber drei Bücher greife ich dann doch heraus, denn ohne sie wäre das Jahr für mich ein wenig weniger gewesen.
Lisa Feldman Barrett: Siebeneinhalb Lektionen über das Gehirn
Um sicherzustellen, dass der Kopf wegen der Verrücktheit unserer Zeit nicht in einer „Twelve Monkeys“-Situation steckenbleibt, haben Menschen verschiedene Bewältigungsstrategien entwickelt. Ich backe Zimtschnecken, gehe zu Fuß weit weg oder gucke Dokumentationen übers Weltall. Nichts macht die Probleme hier kleiner, als zu wissen, wie klein hier eigentlich ist.
Das Gehirn ist das Weltall, dass wir mit uns herumtragen: genauso faszinierend, ein bisschen gruselig und noch längst nicht zu Ende entdeckt. Immerhin weiß Lisa Feldman Barrett, womit unser ach so überlegenes Bewusstsein einmal angefangen hat: „Vor langer, langer Zeit waren Sie ein Magen an einem Stock, der im Meer trieb.“ Da schreit einem die ganze Hybris der Gegenwart ins Gesicht.
Jeder dieser siebeneinhalb Essays ist eine Achterbahnfahrt. Vom Faszinationsgipfel geht es mit 4 g runter in die Philosophie-Senke und von da in den Erkenntnislooping. Zum Beispiel ist die Vorstellung weit verbreitet, unsere Augen seien eine Art Sehrohr in die Wirklichkeit und unser Hirn sei die Leinwand. Aber: „Von dem Moment Ihrer Geburt bis zu Ihrem letzten Atemzug sitzt Ihr Gehirn in einem dunklen, stillen Behälter namens Schädel.” Die Welt ist nur Signale, das Bild in unserem Kopf nichts weiter als ein Konstrukt. Wer das realisiert, muss gleich viel weniger Zimtschnecken backen.
James Hawes: Die kürzeste Geschichte Deutschlands
Das Buch ist ein Etikettenschwindel. Mit seinen 250 Seiten ist es wahrhaftig ein Sprint durch die vergangenen zwei Jahrtausende deutscher Geschichte, und ich sehe ein, dass der Verlag diesen Dreh als besonders Marketing-geeignet ansah. Aber in Wirklichkeit ist das Buch ein langes Essay über die Verschiedenenheit zweier Deutschlands – eines östlich und ein anderes westlich der Elbe.
Deutschland war in seinen unterschiedlichen Zuständen immer eine Macht in der Mitte. Seine beiden Hälften standen nicht erst nach 1945 unter dem Einfluss verschiedener Sphären. Deshalb teilte die Elbe immer schon Gesellschaften und Geschwindigkeiten. Konrad Adenauer war nicht der Erste, der Ostdeutschland – angeblich! – als „sibirische Steppe“ bezeichnete. Schon der römische Eroberer Drusus stoppte im Jahr 9 vor Christus an der Elbe, weil ihm – angeblich! – eine riesenhafte Frau erschien und zur Umkehr mahnte.
Eventuell wächst in Deutschland gar nicht zusammen, was zusammengehört, und der Einheitsprozess ist viel mehr wie eine Folge „Super Nanny“ mit offenem Ausgang. Alle zusammen müssen sich richtig anstrengen, damit doch noch eine Familie draus wird (die Rolle des peinlichen Nazi-Onkels aus Thüringen ist schon vergeben). Als Deutscher ist man versucht, Hawes’ Prämisse als gewagt anzusehen, weil hiesige Gedenkkultur und Staatsräson seit mehr als 30 Jahren etwas anderes behaupten. Vielleicht musste darum ein Brite dieses Buch schreiben. Weniger erhellend ist es deshalb nicht.
Erich Kästner: Emil und die Detektive
Steile Thesen können wir auch: Ohne „Emil und die Detektive“ hätte es „Oh, wie schön ist Panama“ nicht gegeben. Manche behaupten, Kästner hätte den ersten Freundschaftsroman der Kinderliteratur geschrieben. Davor hatten Bücher für Kinder vor allem zu erziehen und die Moral zu heben. Der zwölfjährige Emil Tischbein und seine Freunde aber handeln anstatt behandelt zu werden.
Wie viele andere, so habe ich Erich Kästner zuerst und vor allem als den Autor von Kinderbüchern kennengelernt. Erst das zwiespältige Verhältnis zu meinem vorübergehenden Wohnort Berlin ließ mich den erwachsenen Kästner entdecken und feststellen, dass „Fabian. Die Geschichte eines Moralisten“ das viel bessere „Babylon Berlin“ ist.
Die Beschreibung von Zeit und Milieu, die in „Emil und die Detektive“ eingewoben ist, habe ich mit dem erwachsenen Kästner im Kopf neu gelesen. Man lernt viel über Kästners vorübergehenden Wohnort Berlin während der ausgehenden Weimarer Republik – und über einiges mehr, das länger Bestand hatte. Janoschs Tiger brachte es später auf den Punkt: „Wenn man einen Freund hat, braucht man sich vor nichts zu fürchten.“
Ich habe den Text in der E-Mail gelesen, was bedeutete, dass ich viel scrollen musste, um ein "Herz" abzugeben. Allein der Gedanke, dass ich so träge geworden bin und alles als selbstverständlich betrachte und nicht mal die Zeit nehme, einen Like zu drücken, hat mich sehr erschrocken. Deswegen schreibe ich diesen Kommentar und danke für die Liste der Bücher, aus der ich mehrere lesen möchte. Gehirnforschung ist mein Thema Nummer eins. Ich bin gespannt, ob ich nach dem Lesen weniger lange Spaziergänge machen muss...
Chapeau! Beachtliches Pensum! Und vielseitige Lektüre! Wünsche dir ein erbauliches Lesejahr 2025!