Der wirklich ALLERSCHLECHTESTE Serientipp
Man mag kaum glauben, dass ich noch über soziale Kontakte verfüge. Denn meine Watchlist ist wirklich Mist
In unserer Zeit hat sich eine neue Kulturtechnik herausgebildet, deren Beherrschung über Erfolg oder Scheitern in jedweder Beziehung entscheidet: der Serientipp.
Wem an der Betriebskaffeemaschine ein "Und, was schaust Du gerade so?" begegnet, der muss unmittelbar in den Krisenmodus schalten. Denn gefragt ist jetzt kein ehrlicher Einblick in die jämmerliche Freizeitgestaltung. Es mag zwar der Wahrheit entsprechen, dass Sie sich gerade die große "Marienhof"-DVD-Box gegönnt haben, und das klingt sogar nach einem formidablen Regenwochenende in Trainingshose. Ihrem sozialen Status aber wäre diese Antwort so abträglich wie eine Vergangenheit als weißrussischer Streubomben-Influencer.
Stattdessen muss jetzt ganz en passant und drei Wochen vor allen anderen eine künftige Emmy-Gewinnerin aus dem Ärmel geschüttelt werden. Garnieren sie ihren Serientipp mit einem naseweißen "Das ist von den Machern von ...", und im anschließenden Team-Meeting wird Ihre Excel-Tabelle zur Excel-Tabelle des Tages gewählt. Setzen Sie darüber hinaus noch ein gekonntes "Du weißt schon ..." ein, dann kann der Karsten aus'm Marketing nur noch nichtsahnend nicken. Auch der Letzte hat jetzt kapiert, wer popkultureller Olymp und wer Gosse ist.
Ich musste all das am eigenen Leib erfahren und habe doch nichts gelernt. Niemand sollte zu mir kommen, um nach den heißesten Serientipps zu fragen. Das ist das Niveau: Ich habe es geschafft, viereinhalb Jahre für Netflix zu arbeiten, ohne jemals eine Folge "Stranger Things" geguckt zu haben.
Ich kenne auch nicht den neuen Podcast, von dem jetzt alle ("Aaaaa-lle!") reden, in dem nämlich Trevor Noahs Schwippschwager erzählt, wie sein Ururgroßvater bei einem Zugunglück in Chile im Jahre 1889 die Rettungsmaßnahmen leitete. Wie das aktuelle Wunderkind aus der oberpfälzischen Provinz heißt, das zusammen mit dem Mietvertrag für ein Neuköllner WG-Zimmer einen Deal bei Suhrkamp unterschrieben hat, werde ich frühestens auf der Bücherherbst-Doppelseite in der Neuen Westfälischen lesen.
Andererseits kann es sehr beruhigend wirken, aus dem Trend-Hamsterrad auszusteigen. Ist die eigene Coolness erst einmal dahin, steht dem orgiastischen Konsum von Backshows nichts mehr im Wege. Wer sich gleich ein ganzes eskapistisches Neuuniversum eröffnen will, das nämlich der ARD-Mediathek mit all ihren Regionaldokus ("Der letzte Krabbenpuhler von Butjadingen", "Der letzte Besenbinder von Lennestadt" etc.), der lasse einfach alles Hype-Surfen fahren und lebe fortan ganz unbehelligt vom Dazu-gehören-wollen.
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Um Ihnen den Einstieg in den Ausstieg zu erleichtern, kommen hier die Lowlights meiner Freizeitgestaltung der vergangenen Wochen – garantiert trendfrei und in keinem Fall preisverdächtigt. Und wenn doch mal heißer Scheiß dabei ist, dann mindestens sechs Monate zu spät. Viel Spaß beim Nach-Cringen!
Der Geist der mittelmäßigen Weihnacht
Die Feierlichkeiten rund um den Jesus-Geburtstag sind ein Hochfest des schlechten Geschmacks. Denn geschmackloser wird es kaum, wenn "Familienunterhaltung" im Fernsehprogramm einreitet wie ein wütender Bauern-Mob in den Fährhafen von Schlüttsiel.
Verrückt ist ja, selbst in Zeiten des selbstsouveränen Streamings unterwirft man sich dem Unsinn-Diktat. Neben der Weihnachtsedition von Michael Herbigs LOL – Last one laughing auf Amazon standen für mich sämtliche Folgen vom Nailed it!-Festtagsspecial auf dem Programm. Sie wissen schon, das ist diese Netflix-Show, bei der Unbegabte sich an Backteig vergehen.
Warum meint man, wenn man "Weihnachtsfilme" sagt, eigentlich meistens mittelalten, mittelmäßigen Mist aus Hollywood? Ich hielt es für eine gute Idee, mit meiner zehnjährigen Tochter Der verrückte Professor mit Eddie Murphy zu schauen. Nach 15 Minuten haben wir das Film gewordenen Fatshaming dann ausgeschaltet.
Später habe ich in der Doku Eddie Murphy, Hollywoods Schwarzer König noch erfahren, welch besondere Rolle dieser Film für ihn selbst spielte. Eddie Murphy kann den "Professor" ja gerne zu Ende gucken. Tochter und ich haben stattdessen zum einhundertsechsten Mal Die Muppets Weihnachtsgeschichte geschaut.
Slaughter on a plane
Im Dezember musste ich an die Ostküste der USA fliegen. Ich bin entsetzt, was die 13-stündige Marter eines solchen Fluges mit meinem Rücken, aber vor allem mit meiner Empathiefähigkeit angestellt hat. Es ward ein veritables Abschlachten auf Sitz 47J in der Economy-Klasse.
Eröffnet wurde der Blutrausch von Equalizer 3 und der zweiteiligen Doku Corleone. Der Pate der Paten. Teil eins von Guardians of the Galaxy bot eine kurze Verschnaufpause, denn die darin enthaltene Gewalt ist allzu Disney-konform. Dann ging es zum großen Splatter-Crescendo mit der ersten Staffel von The Boys.
Ich schätze, Kunstblut ist für mich, was für andere eine Bloody Mary ist: gehört zum Fliegen einfach dazu.
Biberach, mon amour
Durch die vielen wachen Stunden im Anschluss an den Transatlantik-Flug haben mir die Audiotheken von ARD und DLF geholfen. Wer Schlafen hasst, wird Jetlags lieben. Ich mag Schlafen.
Die öffentlich-rechtliche Krimi-Schwemme im Fernsehen verursacht mir regelmäßiges Sodbrennen. Es ist doch so: Als Tourismus-Direktorin irgendeines 30.000-Seelen-Kaffs muss man ja mittlerweile beleidigt sein, wenn im ZDF kein, ich sag mal, "SOKO Biberach an der Riß" läuft! Aber in Form des Hörspiels habe ich den Krimi entdeckt als das, was er ist: nämlich Schall gewordenes Manna, das nachts um drei vom Himmel rieselt ins runtergefrostete Amerika-Hotel.
Eher konventionelle Krimi-Kost verdöste ich mit dem Radio-Tatort Laim, mon amour. Für Alte-Bundesrepublik-Nostalgiker wie mich sind die Abenteuer von Professor van Dusen aus dem DLF-Archiv zu empfehlen. Irgendwie auch historisch aufgeladen sind die abgefahrenen Geschichten um Privatdetektiv Timothy Truckle. Die Fälle wurden in den Siebzigern von Gert Prokop ersonnen und sind jetzt als Hörspiel neuaufgelegt worden mit Matthias Matschke als ein Meter dreißig großem Endzeit-Schnüffler.
Drei vor zwölf
Was ich ja noch nie verstanden habe: den Musiksender Viva. Heute bin ich zu alt, um Tiktok zu fühlen, schon klar. Aber in den Neunzigern war ich Viva-Kernzielgruppe. Trotzdem konnte ich der picklig-dulligen Selbstverliebtheit aus Köln-Ossendorf nie was abgewinnen. Unter die lauwarme Nostalgiedusche, die anlässlich von Vivas Dreißigstem durch den Dezember schwappte, wollte ich mich trotzdem kurz drunterstellen, allein schon aus Boomer-nostalgischen Gründen.
Nach Die VIVA-Story - zu geil für diese Welt! war schon wieder dringend Schluss für mich. Die Pickel mögen inzwischen verschwunden sein, aber die dullige Selbstverliebtheit ist geblieben. MTViva liebt dich! steht deshalb auch unausgelesen bei mir auf dem Klo. Man mag den Sender dafür feiern, dass jede und jeder Zweite im deutschen Fernsehen vorher bei Viva moderiert hat. Man kann es aber auch so sehen: Das aufboomende Privatfernsehen hat so viele Programmflächen geschaffen, die zumoderiert werden mussten, dass selbst ehemalige Viva-Ansagende zuverlässig einen Job fanden.
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Das zum Schluss war das Letzte, seh' ich ein. Wahrscheinlich habe ich einfach zu oft mein aktuelles Lieblingslied gehört. Bei dem kommt echte "Doomsday"-Stimmung auf. Aber immerhin schließt dieser Text deshalb in guter Viva-Manier: mit einem Musikvideo.
Und das kennt der Karsten aus'm Marketing garantiert auch noch nicht.
"Musst Du wissen"-Zone
Weil ich ja Links mittendrin in Texten meistens hasse, habe ich die Schmach versammelt an einem Fleck. Hier ganz unten, wo eh kein Licht mehr hinkommt. Bei wem also die oben erwähnten Kulturgüter einen Hauch von Interesse geweckt haben – als ob! –, dem seien die folgenden Links zur Nachahmung empfohlen.
Krimi-Hörspiele mit Professor van Dusen